408 zu 391 Stimmen. Nach stundenlanger Debatte ringt sich die CDU auf ihrem Parteitag zu einem Verbot der PID durch
Karlsruhe - Niemand ist laut geworden. Niemand hat die Gegner persönlich attackiert. Kaum jemand hat auf fernsehkompatible Statements statt auf Argumente gesetzt. Als nach fast vierstündigem Austausch von medizinischen Fachbegriffen, rechtlichen Expertisen und Bibelversen die Delegierten des 23. Parteitages der CDU matt, aber auch stolz auf die unbequemen Stühle in der Karlsruher Messehalle zurücksinken, kann nicht einmal der dröhnende Gastredner Horst Seehofer die ruhige Konzentration stören. Jetzt wagt keiner mehr, das Ergebnis der Abstimmung über die Präimplantationsdiagnostik (PID) vorherzusagen, es scheint nun wie die Debatte: völlig offen. Die Hauptprotagonisten sind hinter der Bühne: Peter Hintze, der Staatssekretär im Wirtschaftsministerium, der eindrücklich vom Leid von Menschen mit unerfülltem Kinderwunsch sprach. Und Hubert Hüppe, der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, der schilderte, wie sich Eltern von Kindern fühlen, die es mit einer PID nie gegeben hätte. Beiden geht die Debatte so nahe, dass sie das Ergebnis nicht unter Beobachtung erfahren wollen.
Angela Merkel aber, die Bundeskanzlerin, sitzt auf der Bühne, im Tagungspräsidium und lächelt. Sie kennt das Ergebnis seit ein paar Sekunden, es ist ganz in ihrem Sinne ausgefallen: 408 Abgeordnete haben für ein Verbot der PID gestimmt, wie es das CDU-Grundsatzprogramm vorsieht. 391 Abgeordnete waren dagegen. 51 zu 49 Prozent. Das denkbar knappste Ergebnis. Das Verbot, also die Position, die Merkel überraschend einnahm, hat obsiegt. Aber auch die PID-Befürworter, die in Merkels Umfeld dominieren, haben durch das knappe Ergebnis Legitimation für ihre abweichende Meinung gewonnen.
In die Debatte auf dem Parteitag griff die Kanzlerin - anders als bei der Stammzellendebatte vor drei Jahren - bewusst nicht direkt ein. Wohl aber in den Debattenverlauf. Als am Montagabend der Bremer Landesvorsitzende Thomas Röwekamp den Vorschlag macht, nur 21 Wortmeldungen und drei Minuten Redezeit zuzulassen, fällt ihm Merkel ins Wort und redet den Delegierten gleich ins Gewissen: "Ich möchte, dass das Thema gründlich beredet wird. Ich will aber nicht, dass wir morgen mit der Hälfte des Parteitages dasitzen - ich weiß, wovon ich rede."
Nach der Stammzellendebatte vor drei Jahren war der Parteiführung vorgeworfen worden, eine nächtliche Abstimmung habe wegen vieler Abwesender eine Zufallsmehrheit ergeben. Diesem Vorwurf will sich Merkel diesmal auf keinen Fall aussetzen. Nicht allen passt, dass es nun, um eine Aussprache ohne Begrenzung von Zeit und Rednerliste zu ermöglichen, sogar eine Geschäftsordnungsdebatte gibt: "Sind wir hier bei den Grünen, oder was?", fragt Ole Schröder, Staatssekretär im Innenministerium, genervt.
Die Delegierten jedoch wollen reden und reden und reden. Sie stimmen am Dienstag noch einen zweiten Versuch, die Debatte nach drei Stunden abzubrechen, nieder: Jeder soll sprechen dürfen. Es handelt sich nicht um einen Konflikt zwischen Basis und Führung, Frauen und Männern, Protestanten oder Katholiken. Vielmehr gibt es beide Meinungen in allen Gruppen der Partei: Der PID-Skeptiker Volker Kauder, Fraktionsvorsitzender, steht gegen die PID-Befürworterin Ursula von der Leyen, Arbeitsministerin. Delegierte, die Mediziner sind, sprechen sich gegen die PID aus, studierte Theologen hingegen dafür. Auch Überraschungen sind dabei, als etwa der Bundestagspräsident Norbert Lammert, ein praktizierender Katholik, der einst Merkel für ihre Papst-Schelte rügte, nun offenbart, er neige eher zu einer Zulassung von PID. Mit Lammerts Beitrag nimmt die Debatte noch einmal eine überraschende Wendung, über die Merkel allerdings vorher informiert war: Der Bundestagspräsident schlägt nämlich einen Kompromiss vor. Die PID solle weiter verboten bleiben, ihre Anwendung jedoch nicht strafrechtlich verfolgt werden. Mit diesem Kompromiss ist schon die Straffreiheit von Abtreibung eingeführt wollen.
Viele Delegierte betonen in der Debatte jedoch die hohe Zahl von Schwangerschaftsabbrüchen in Deutschland (einige sprechen von 120 000 im Jahr, andere sogar von 200 000). Eine Lösung, wie sie Lammert - und auch der saarländische Ministerpräsident Peter Müller - anstrebt, könnte freilich nicht der Partei-, sondern nur der Bundestag treffen. Doch die Delegierten wollen nicht vertagen, sondern entscheiden. Das zeichnete sich schon früh ab. Trotz desaströser Umfragewerte der schwarz-gelben Regierung, trotz der Neuwahl eines Großteils der Parteiführung, trotz Großreformen wie der Abschaffung der Wehrpflicht ist das eigentliche Thema des Parteitages von Anfang an die philosophische Frage, die hinter jeder Haltung zur PID steckt: Wann beginnt menschliches Leben? "Bei der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle", macht der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Robert Zollitsch, schon im Gottesdienst vor dem Parteitag die katholische Position klar. Peter Hintze, der evangelische Pastor, Staatssekretär und Merkel-Vertraute, hält dagegen. Nicht erst in seiner Rede, in der er erklärt, menschliches Leben beginne immer erst im Körper der Frau und eben nicht schon in der Petrischale.
Hintze hat für seinen Antrag, PID in engen Grenzen zuzulassen, die Ministerinnen Ursula von der Leyen und Kristina Schröder gewonnen. Am Abend vor dem Partei-tag unterschreibt auch Wolfgang Schäuble bei Hintze. Nun wollen also die siebenfache Mutter, die Familienministerin und der behinderte Spitzenpolitiker die Zulassung der PID. Wird das die Delegierten beeindrucken? Zuerst scheint es so. Als Merkel schon am Montag in ihrer Rede von "Embryonenselektion" spricht, also den Begriff der PID-Gegner verwendet, gibt es nur wenig Beifall. Es scheint so, als am Dienstag Katharina Reiche, die Parlamentarische Staatssekretärin im Umweltministerium, von einer Amerikanerin berichtet, die fünf Kinder an die Krankheit Muskeldystonie verlor und deren überlebende Tochter deshalb später zur PID griff. Hintze erhebt die Methode gar zur "menschenfreundlichen Alternative zur Pränataldiagnostik", also dem vorgeburtlichen Fein-Ultraschall, der in Deutschland längst eine Routineuntersuchung bei Schwangeren geworden ist. Hintze zitiert sogar aus der Offenbarung des Johannes: "Gott wird abwischen alle Tränen, es wird kein Leid mehr sein und kein Schmerz mehr." Julia Klöckner, die junge Staatssekretärin, die im Frühjahr Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz werden will, entgegnet ihm: "Den Wunsch, Tod und Leid zu überwinden, wird die Politik niemals erfüllen können."
Viele Beiträge zeugen von intensiver Beschäftigung mit dem Thema, offenbaren echte Gewissensprüfung und oft auch intellektuelles Niveau. Zwei Redner lassen dem Parteitag besonders den Atem stocken: Der Behindertenbeauftragte Hüppe zitiert Zahlen der Europäischen Gesellschaft für Reproduktionsmedizin und Embryologie: 119 711 Embryonen wurden im vergangenen Jahr erzeugt und getestet. Von diesen wurden nur 21 478 für gut befunden und "transferiert". Aus diesen erwuchsen nur 3158 Schwangerschaften, die nur zu 2287 Geburten führten, von denen 99 trotz PID schwerstbehindert waren. Hüppes unausgesprochenes Argument: PID ist ein falsches Versprechen. Peter Liese, Europaabgeordneter und selbst Arzt, berichtet von einer jungen Rechtsanwältin aus Brüssel, die gut mit einem Mukoviszidose-Gen lebt. Dieses aber ist die Hauptanwendung für PID. Liese ruft in die riesige, immer noch stille Messehalle: "Ich möchte, dass sich hier einer ans Rednerpult stellt und sagt: Mukoviszidose: Ja oder Nein. Downsyndrom: Ja oder Nein. Dann wissen wir, woran wir sind." Keiner der Befürworter der PID geht darauf ein. Dennoch wird diese Frage zumindest auf die Abgeordneten der CDU erneut zukommen, spätestens wenn der Bundestag im Frühjahr die Entscheidung über die PID trifft.
Quelle: Die Welt am 17. November 2010
Labels: Deutschland, Politik, Präimplantationsdiagnostik
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