Mental Health: Soziale Probleme werden in Krankheiten umdefiniert
Scharfe Kritik am ab Mai 2013 gültigen neuen Handbuch zur Definition psychischer Erkrankungen
Die Kontroversen rund um die Neuauflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, kurz DSM-5, spitzen sich zu. Das neue 1000-Seiten-Nachschlagewerk für Psychiater zur Klassifizierung psychischer Erkrankungen soll bei der Jahrestagung der American Psychiatric Association, die von 18. bis 22. 5. 2013 in San Francisco stattfindet, präsentiert werden.
Der amerikanische Psychiater Allen Frances von der Duke University gilt als einer der schärfsten Kritiker des DSM-5 (vgl. IMABE-März 2012 Psychiatrie: Mediziner warnen vor Erfindung von Pseudo-Krankheiten). Frances hält das neue Handbuch für „schlampig“ und „nicht wissenschaftlich fundiert“. „Eine Petition für eine unabhängige wissenschaftliche Überprüfung, die 56 psychiatrische Organisationen unterstützt hatten, wurde einfach ignoriert“, schreibt Frances im New Scientist (online, 5. 5. 2013). Die Pharmaindustrie habe die Idee vorangetrieben, alltägliche Probleme seien psychische Krankheiten und die Folge eines chemischen Ungleichgewichts. Anstatt sichere Kriterien für den klinischen Alltag zu geben, würden „neue Erkrankungen“ eingeführt, die eine „Traumliste für Forscher“ seien und „ein Albtraum für die Patienten“. Frances kritisiert unter anderem eine zunehmende Uminterpretation normaler menschlicher Gefühle zu schweren psychischen Erkrankungen – etwa Trauer beim Verlust eines geliebten Menschen. Zwei Wochen Traurigkeit, Schlafstörungen und der Verlust von Appetit seien aber völlig normale Anzeichen bei Trauer – und keine depressive Störung, so der Psychiater.
Nun erteilte auch das US-amerikanische National Institute of Mental Health (NIMH) dem neuen Handbuch eine Absage. Man werde sich nicht an die ihrer Ansicht nach unbrauchbare Neu-Klassifizierung von Krankheiten halten, wenn es um die Vergabe von Forschungsgeldern geht, und statt dessen eigenen Nomenklaturen folgen, so NIMH-Direktor Thomas R. Insel in einem offenen Brief (online, 29. 4. 2013). Das Institut vergibt rund 1,5 Milliarden US-Dollar jährlich zur Erforschung psychischer Erkrankungen.
Das DSM-5 beeinflusst maßgeblich den Diagnoseschlüssel der WHO, den ICD-10, der auch für Ärzte und Psychologen in Österreich und Deutschland gilt – und nach dem bestimmt wird, für welche Krankheiten die Krankenkassen eine Therapie zahlen.
Wolfgang Schneider, Direktor der Rostocker Universitätsklinik für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin, betrachtet die seit den 1990er Jahren stetig steigenden Zahlen von Krankschreibungen wegen psychischer Erkrankungen mit großer Skepsis, berichtet das Deutsche Ärzteblatt (online, 29. 4. 2013) „Es gibt eine große Bereitschaft von Menschen, sich als psychisch belastet anzusehen und sich deswegen krankschreiben zu lassen“, so Schneider. Sie folgten dem medialen Hype um das Burn-Out-Syndrom. „Die Schwelle, ab wann Symptome als Ausdruck einer psychischen Erkrankung bezeichnet werden, sinkt. Die Diagnose einer psychischen Erkrankung wird zu schnell und zu häufig gestellt.“ Dabei würden genaue Analysen zeigen, dass die Zahl von 33 Prozent der Frauen und 25 Prozent der Männer, die innerhalb eines Jahres an einer „etablierten“ psychischen Erkrankung leiden, seit 20 bis 30 Jahren stabil ist. Soziale würden in medizinische Probleme umgewandelt, kritisiert Schneider.
Quelle: IMABE-Newsletter Mai 2013
Labels: Depression, Diagnose, Mental Health, psychische Erkrankungen
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