ADHS: „Zappelphilipp-Syndrom“ wird zu häufig diagnostiziert
Ärzte kritisieren „Modekrankheit“ und warnen vor steigendem Medikamentenverbrauch
Die Daten sind erschreckend: Die Zahl der
diagnostizierten ADHS-Fälle
(Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom) stieg in Deutschland
zwischen 2006 und 2011 bei den unter 19-Jährigen um 42 Prozent, wie aus
dem jüngsten Barmer-Arztreport 2013
hervorgeht. In dieser Altersgruppe erhielten im Jahr 2011 472.000
Buben und 149.000 Mädchen die Diagnose ADHS. Gleichfalls hoch sind dem
Report zufolge die Verordnungsraten von Ritalin (Methylphenidat). 2011
wurde das Medikament an rund 336.000 Personen verschrieben. Die
höchsten Verordnungsraten finden sich bei Kindern im Alter von elf
Jahren. Im Laufe der Kindheit und Jugend dürften damit schätzungsweise
10 Prozent aller Buben und 3,5 Prozent aller Mädchen mindestens einmal
Methylphenidat erhalten.
Anlässlich der Vorstellung des Reports zeigte sich der stv. Vorstandsvorsitzende der Barmer GEK,
Rolf-Ulrich Schlenker, besorgt über diese Entwicklung. „Dieser Anstieg
erscheint inflationär. Wir müssen aufpassen, dass ADHS-Diagnostik
nicht aus dem Ruder läuft und wir eine ADHS-Generation fabrizieren“,
betonte Schlenker (Pressemitteilung, online, 29. 1. 2013).
Pillen gegen Erziehungsprobleme seien der falsche Weg: Ritalin dürfe
nicht per se das Mittel der ersten Wahl sein. Stattdessen komme es auf
„trennscharfe Diagnosen“ an.
Empirische Untersuchungen hatten erst kürzlich
gezeigt, dass Psychotherapeuten und Kinderpsychiater sich zu häufig auf
ihre Intuition und die Kennzeichen eines Prototyps für ADHS verlassen
statt sich eng an die gültigen Diagnosekriterien zu halten
(Pressemitteilung der Ruhr Universität Bochum, online, 30. 3. 2012).
Insbesondere bei Buben stellten sie deutlich mehr Fehldiagnosen als
bei Mädchen, so die Ergebnisse der deutsch-schweizerischen Studien,
wobei Männer eher zu dieser Diagnose neigten als Frauen. Die Ausgaben
für ADHS-Medikamente haben sich von 1993 bis 2003 verneunfacht –
beispielsweise für das leistungssteigernde Methylphenidat.
Die Reportautoren Thomas G. Grobe und Friedrich W. Schwartz vom Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitssystemforschung (ISEG) in Hannover
ermittelten zudem einige Eltern-abhängige Faktoren, die das Risiko für
eine ADHS-Diagnose und die Verordnung von Medikamenten wie
Methylphenidat bei Kindern beeinflussen, und kommen zum selben Schluss
wie eine schwedische Studie (vgl. IMABE-Newsletter Juni 2010 Public Health: Schwierige Familienverhältnisse begünstigen ADHS bei Kindern).
Demnach steigt mit niedrigem Ausbildungsniveau der Eltern das Risiko
der Kinder für ADHS, ebenso bei Kindern von Alleinerziehenden. Kinder
arbeitsloser Eltern sind häufiger von der Störung betroffen, bei
Kindern von Gutverdienern wird sie tendenziell seltener diagnostiziert.
Ein internationales Forscherteam arbeite derzeit an einer nicht-medikamentösen Behandlung von ADHS, berichtet der Standard (online, 5. 2. 2013).
Die bisherigen Ergebnisse für diese Therapieform sind noch zu dünn. Um
eine eindeutige Aussage treffen zu können, müssten dringend mehr
verblindete Studien her, um wissenschaftlich aussagekräftig zu sein.
Quelle: IMABE-Newsletter Februar 2013
Labels: ADHS, Diagnose, Medikamente
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