Dienstag, 27. November 2012

Euthanasie: Vier Mythen zur Legalisierung des assistierten Suizid



Angehörige leiden nach Euthanasie an posttraumatischer Belastungsstörung

Die Bürgerinitiative Death With Dignity im US-Bundesstaat Massachusetts hat ihr Ziel nicht erreicht: In einer knappen Abstimmung am 6. November 2012 sprachen sich 51 Prozent der Wähler gegen eine Legalisierung der ärztlichen Beihilfe zum Selbstmord aus. Der Gesetzesentwurf sah vor, dass Schwerkranke, die nach Einschätzung der Ärzte „weniger als sechs Monate Lebenswartung“ haben, zukünftig legal tödliche Medikamentendosen erhalten dürfen. Die Patienten müssten zurechnungsfähig sein, aus freiem Willen entscheiden sowie ihren Wunsch schriftlich und zweimal mündlich äußern, hieß es in der Vorlage. Euthanasie ist bislang nur in zwei der 50 US-Bundesstaaten - Oregon und Washington - zulässig. 

Kritiker der Initiative warnten vor Missbrauch. Prognosen zur Lebenserwartung seien schwierig und „nicht immer korrekt“, erklärte der Ärzteverband Massachusetts Medical Society. Der demokratische Kongressabgeordnete Barney Frank argumentierte dagegen, bei der Sterbehilfe gehe es um „individuelle Rechte und persönliche Freiheit“. 

Ezekiel Emanuel, prominenter Bioethiker der University of Pennsylvania School of Medicine sowie Fellow des Hasting Center hatte im Vorfeld des Referendums in der New York Times (online, 27. Oktober 2012) die „Vier Mythen zur Legalisierung des ärztlich assistierten Suizid“ kritisiert. 

Patienten, so heißt es, würden den ärztlich assistierten Suizid wegen unerträglicher körperlicher Schmerzen fordern. Das stimme so nicht: Studien zeigen, dass das Hauptmotiv nicht körperliche Schmerzen sind, sondern „psychische Belastungen“ wie Depression, Hoffnungslosigkeit und Angst vor dem Verlust von Autonomie. Die Antwort auf Selbstmordgedanken, die mit Depressionen und Hoffnungslosigkeit verbunden sind, könne aber nicht sein, Menschen Mittel bereit zu stellen, um ihr Leben zu beenden, sondern ihnen Beratung und Betreuung anzubieten, so Emanuel. 

Ein weiteres Scheinargument: Die Forderung nach Beihilfe zum Selbstmord sei eine unausweichliche Folge der Entwicklung der High-Tech-Medizin, wenn sie ein Leben unnötig und unwürdig verlängere. Wie kommt es dann, fragt der Bioethiker, dass schon Griechen und Römer Euthanasie-Befürworter waren? Nicht die Fortschritte der Hightech-Medizin seien hier treibende Kraft, sondern die Verherrlichung der persönlichen Entscheidung des Individuums. 

Mythos Nummer Drei laute, dass der ärztlich assistierte Suizid die Möglichkeit garantiere, für alle das Lebensende zu verbessern, wenn jedes Individuum einen qualvollen Tod vermeiden könne. Tatsache sei aber, dass selbst dort, wo ärztlich assistierter Suizid legal ist, nur wenige Menschen darauf zurückgreifen. Wer würde also von einer Legalisierung der Sterbehilfe „profitieren“? Eine kleine Elite Reicher, gut Gebildeter. Und wer sind die Menschen, die am ehesten missbraucht werden, wenn assistierter Suizid legalisiert wird? fragt Emanuel: „Die armen, schlecht ausgebildeten, sterbenden Patienten, die eine Belastung für ihre Angehörigen darstellen“. 

Schließlich stelle der ärztlich assistierte Suizid selbst im medizinischen Sinn keinen „guten Tod“ dar, schließt Emanuel seine Kritik. Laut einer niederländische Studie käme es immer wieder zu Komplikationen nach Einnahme des tödlichen Medikaments – das nicht wirkt, den Tod über Tage hinauszögert und in 18 Prozent der Fälle dazu führt, dass Ärzte direkt in die Tötung eingreifen müssen. 

Auch für Angehörige scheint der „sanfte, sichere und würdige Tod durch Einschlafen im eigenen Zuhause, umgeben von den engsten Angehörigen“ – so die Versprechen auf der Homepage des Schweizer Suizidbeihilfeverbandes Exit – alles andere als harmonisch. Dies zeigt das Ergebnis einer jüngst im Fachjournal European Psychiatry publizierten Studie (2012: 27, 7, 542–546), in der 85 Familienmitglieder oder enge Freunde von Sterbewilligen befragt wurden, die vor 14 bis 24 Monaten einem assistierten Suizid durch Exit beigewohnt haben. 20 Prozent hatten eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), bei zwei Dritteln der Befragten waren die Symptome voll ausgeprägt. 16 Prozent hatten eine Depression und 5 Prozent litten immer noch unter ähnlich starker Trauer wie in den ersten Monaten (eine sogenannte komplexe Trauerreaktion). Dazu trug allerdings nicht nur die Situation der Sterbebegleitung selbst bei, sondern auch die forensische Untersuchung durch Polizei, Ärzte und Staatsanwaltschaft, die in der Schweiz jedem Freitod zwingend folgt, ergänzen die Studienautoren. 

Die Österreichische Gesellschaft für Palliativmedizin hat sich in einer aktuellen Pressemitteilung (online 5.11.2012) entschieden dafür ausgesprochen, die in Österreich geltende Gesetzeslage, in der die Hilfe zum Selbstmord unter Strafe steht, beizubehalten.

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BMJ-Initiative: Pharmakonzerne sollen alle Daten offenlegen



Kampfansage gegen geschönte Ergebnisse, unterschätzte Nebenwirkungen und Interessenskonflikte

Das British Medical Journal hat als erste große Fachzeitschrift angekündigt, klinische Studien zu Arzneimitteln künftig nur noch zu publizieren, wenn die Autoren anderen Forschern auf Verlangen Rohdaten zur Verfügung stellen. Ob andere internationale Journals mitziehen, ist noch offen, berichtet das Deutsche Ärzteblatt (online, 2.11.2012).

Bereits im Mai 2012 waren einige Journal-Editoren und Pharmafirmen der Medical Publishing Insights and Practices (MPIP)-Initiative mit 10 konkreten Empfehlungen an die Öffentlichkeit gegangen, um Qualitätskriterien in Hinblick auf Vertrauen, Transparenz und die Integrität der Publikationen auch in die Praxis umsetzen zu können (vgl. USA: Fachjournals und Pharmafirmen beschließen gemeinsam ethische Leitlinien, Mai 2012). Sie taten dies aber ausdrücklich im eigenen Namen, nicht als Repräsentanten ihrer Arbeitgeber. 

Arzneimittelhersteller stehen seit einigen Jahren im Verdacht, die Daten klinischer Studien in den Publikationen zu schönen, sagt Chefredakteurin Fiona Godlee im Editorial des BMJ (2012: 345:e7304) und nennt mehrere Beispiele. So sei GlaxoSmithKline erst durch rechtliche Schritte gezwungen worden, Daten zu den Wirkstoffen Paroxetin (zum Suizidrisiko) und Rosiglitazon (zum Herzinfarktrisiko) offen zu legen. Pfizer habe dem Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) 2009 den Zugang zu Originalpublikationen zu Reboxetin verweigert. 

Im Fokus der BMJ-Kritik steht jedoch insbesondere der Schweizer Pharmakonzern Roche. Seit über drei Jahren versuchen Forscher, Einblick in die noch unpublizierten Daten zu Tamiflu zu erhalten, die die Wirksamkeit des bestverkauften Grippemittels belegen sollen. Roche hatte in der Vergangenheit eine Kooperation signalisiert, den Worten laut BMJ jedoch nicht immer Taten folgen lassen. Die jetzige Ankündigung, die Hersteller vor der Publikation auf die spätere Offenlegung zu verpflichten, kann deshalb auch als Konsequenz der frustrierenden Erfahrungen mit dem Schweizer Weltkonzern gelesen werden. Für das BMJ ist die Offenlegung der klinischen Daten auch im eigenen publizistischen Interesse. Die Zeitschrift veröffentlicht immer häufiger Meta-Analyse, deren Qualität durch die Einzelanalyse der klinischen Daten steigt.

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Mental Health: Studie zeigt dramatischen Anstieg von Selbstverletzungen bei Jugendlichen



Jeder 12. Jugendliche hat sich bereits einmal absichtlich selbst verletzt

Selbstverletzendes Verhalten bei Jugendlichen ist ein Phänomen, das in den vergangenen Jahren dramatisch zugenommen hat. In Großbritannien sind in den vergangenen 10 Jahren Krankenhauseinweisungen aufgrund von Selbstverletzungen um 68 Prozent gestiegen. Bei Mädchen unter 25 Jahren lag die Steigerung gar bei 77 Prozent. Einer von 12 Jugendlichen gibt bereits an, selbstverletzende Handlungen durchgeführt zu haben. Dies sind die Ergebnisse einer breit angelegten britischen Studie mit dem Namen TALKING SELF-HARM, die vom Cello CSR-Programm in Partnerschaft mit YoungMinds durchgeführt wurde. Sie wertet eine Befragung unter 2500 Jugendlichen, Eltern, Ärzten und Lehrern zum Tabu-Thema Selbstverletzung aus. 

Schon eine frühere Untersuchung (Lancet 2012; 379(9812):236-43) zeigte, dass die Inzidenz für selbstverletzendes Verhalten bei Mädchen höher ist als bei Burschen (10% vs. 6%), wobei die häufigste Verletzungsmethode das Ritzen mit Messern und Klingen war. Assoziiert waren Angststörungen, Depressionen, übermäßiger Alkoholkonsum, Rauchen und antisoziales Verhalten. 

Laut dem TALKING SELF-HARM–Report wächst mit der Zahl der Fälle auch die Schweigespirale: Über die Ursachen und den Verlauf des auffälligen Verhaltens liegt wenig Wissen vor, auch nicht darüber, wie den meist pubertierenden Jugendlichen am besten geholfen werden kann. Drei von fünf Hausärzten fühlen sich bei diesem Thema überfordert, Lehrer klagen, dass ihnen die nötige Kompetenz fehlt, um mit dem Problem umzugehen, Eltern scheuen sich davor, professionelle Hilfe aufzusuchen. 

Selbstverletzendes Verhalten kann später zu einem erhöhten Suizidrisiko führen. Laut einer kürzlich publizierten schwedischen Studie (vgl. Pressemitteilung online, 2.11.2012) sind Selbstverletzungen aber nicht notwendig mit einer psychischen Erkrankung assoziiert, sondern basieren auch auf Neugierde oder Lust am Selbstexperiment. Der Psychologe Jonas Bjärehed und sein Team von der Universität Lund hatten in Schweden dazu 1000 Jugendliche befragt. Als Gründe für ihr selbstschädigendes Verhalten gaben sie an, dass es ihnen ein gutes Gefühl gäbe, sie es in Filmen gesehen hätten oder auch andere Freunde es täten. Einer von vier Jugendlichen gab an, sich schon einmal absichtlich verletzt zu haben, nur eine sehr kleine Anzahl von ihnen täte es aber gewohnheitsmäßig. 

Das Phänomen der Selbstverletzung scheint bei den meisten Jugendlichen vorübergehend zu sein. Beobachtungen zufolge legen 90 Prozent der Jugendlichen, die sich absichtlich verletzten hatten, dieses Verhalten im jungen Erwachsenenalter ab. Dennoch: Es ist Zeit, dieses wachsende Problem in einer für Jugendliche sensiblen Phase ihres Lebens nicht unter den Teppich zu kehren. Der TALKING SELF-HARM–Report stellt deshalb ausführliche und klare Tools zur Verfügung, die für Ärzte, Eltern, Lehrer und Jugendliche selbst hilfreich sind.

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Studie: Ältere Notfallpatienten profitieren nach Spitalsaufenthalt von geriatrischem Assessment



Wenn schon Pflege im Alter, dann am liebsten zu Hause

Noteinlieferungen ins Krankenhaus wachsen tendenziell am schnellsten bei Patienten über 65 Jahre. Ältere Notfallpatienten können nach ihrer Entlassung signifikant häufiger selbstständig zu Hause leben, wenn sie eine umfassende und altersangepasste Beratung während ihres Krankenhausaufenthaltes erhalten hatten. Die Cochrane-Forscher unter der Leitung von Graham Ellis, Geriater am schottischen Monklands Hospital analysierten 22 Studien mit mehr als 10.000 älteren Patienten (Alter ≥ 65 Jahre), die in den USA, Schweden, Australien, Kanada, Deutschland und Norwegen stationär aufgenommen wurden. Die Ergebnisse des im British Medical Journal publizierten Cochrane-Reviews (2011;343:d6553, doi: 10.1136/bmj.d6553) zeigten: Der Einsatz des Comprehensive Geriatric Assessment (CGA) erwies sich als nützlicher als normale Behandlungen oder geriatrische Teams. 

Das CGA agiert multidimensional und interdisziplinär, um medizinische, psychologische, funktionelle sowie soziale Fähigkeiten gebrechlicher älterer Personen abzuschätzen. Anhand dieser Beurteilung kann ein ganzheitlicher Plan sowohl für die akute Behandlung als auch für die Nachsorge erstellt werden.
Laut Ellis lebten Patienten, die das CGA erhielten, im Vergleich zu jenen mit üblicher Behandlung 12 Monate nach Krankenhausentlassung signifikant häufiger in ihren eigenen vier Wänden ("living at home" als primärer Outcome). Die Gefahr, nach der Krankenhausbehandlung in einem Pflegeheim zu landen, war unter den CGA-Patienten signifikant geringer, ebenso das Risiko zu sterben oder einen schlechteren Gesundheitszustand zu haben. 

In ein Altenheim übersiedeln zu müssen ist für Menschen im erwerbsfähigen Alter die unbeliebteste Variante im Falle der Pflegebedürftigkeit. Sie kommt nur für sieben Prozent der Menschen in Frage, wie eine Repräsentativumfrage der Deutschen Krankenversicherung (DKV) bei Personen unter 66 Jahren ergab, berichtet Springer (online 25.10.2012). 28 Prozent der Befragten möchten im Pflegefall von ihren Angehörigen betreut werden. Ebenfalls 28 Prozent befürworten eine Pflege in einer Wohngemeinschaft mit Pflegedienst. 24 Prozent wollen lieber zu Hause von einem Pflegedienst betreut werden. Dabei würden sich die meisten Männer für eine Pflege durch Angehörige zu Hause entscheiden, während Frauen mehrheitlich in eine Senioren-WG ziehen würden.

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Stammzellen: Nobelpreis zeigt, dass ethisch sauberes Forschen erfolgreich ist


Nobelpreisträger Yamanaka wollte nicht weitere Embryonen für die Forschung zerstören

Die Medizinnobelpreis 2012 geht an zwei Pioniere der Stammzellforschung: an den Japaner Shinya Yamanaka von der Universität Kyoto und den Briten Sir John Gurdon, ehemals Professor an der Universität Cambridge. "Ihre Erkenntnisse haben unser Verständnis davon revolutioniert, wie sich Zellen und Organismen entwickeln", begründete das Nobelpreis-Komitee seine Wahl (Pressemitteilung, online, 15.10.2012). 

Aus ethischer und forschungspolitischer Sicht ist die Vergabe des Preises ein wichtiges Signal: Yamanaka gelang es, bestehende Zellen umzuprogrammieren und zu „verjüngen“, so dass sie embryonale Eigenschaften erhielten. Damit eröffnete er einen Weg, wie Wissenschaftler an Stammzellen mit embryonalen Charakteristika forschen können, ohne dabei menschliche Embryonen im Rahmen der Stammzellforschung vernichten zu müssen. Gurdon hatte bereits 1962 am Frosch-Modell festgestellt, dass sich die Spezialisierung des Erbguts einer Zelle rückgängig machen lässt und damit wichtige Grundlagen für Yamanakas Durchbruch gelegt. 

Yamanaka fand 2006 heraus, wie man reife, also spezialisierte Zellen der Maus in unreife, pluripotente Stammzellen verwandeln kann. Aus solchen induzierten pluripotenten Stammzellen (IPS) können sich dann wieder alle unterschiedlichen Körperzellen entwickeln. Im Jahr 2007 gelang es dem Japaner dann, eine menschliche Hautzelle in eine pluripotente Stammzelle zurückzuprogrammieren (Stammzellenforschung: Durchbruch bahnt Weg zu ethisch sauberer Alternative, Dezember 2007). 

Yamanaka war Gast der Alpbacher Technologiegespräche 2008, wo er sehr bescheiden auftrat. Die neue Technologie solle weder über- noch unterbewertet werden. Man sei keinesfalls derzeit heute schon in der Lage, Menschen damit heilen zu können, betonte der Wissenschaftler. Auf Nachfrage von IMABE (vgl. IMABE-Newsletter September 2008) stellte Yamanaka in der damaligen Diskussion fest, dass es seiner Ansicht nach nicht notwendig sei, neue embryonale Stammzelllinien für Forschungszwecke herzustellen (und damit weitere Embryonen zu zerstören). Die bereits bestehenden Stammzelllinien reichten für die Forschung völlig aus, so der Nobelpreisträger. 

In einem Interview mit der New York Times (online, 11.12.2007) schilderte Yamanaka schon 2007 den Auslöser für seine Wende in der Forschung mit embryonalen Zellen. Jahre zuvor hatte er als Gast einer IVF-Klinik durch das Mikroskop einen tief gefrorenen Embryo gesehen: „Als ich den Embryo sah, wurde mir plötzlich klar, dass zwischen ihm und meinen Töchtern so gut wie kein Unterschied bestand“, so der zweifache Vater. „Damals erkannte ich, dass wir nicht weitere Embryonen für die Forschung zerstören dürften. Es muss einen anderen Weg geben.“ 

Am 10. Dezember erhält er in Stockholm nicht nur den Nobelpreis, sondern auch die Bestätigung, dass ethisch sauberes Forschen erfolgversprechend ist. Dieses Faktum sollte genug Stoff für eine politische Debatte in Österreich und Europa in Hinblick auf die derzeit diskutierte Vergabe von EU-Geldern für die umstrittene Forschung mit Embryonen geben (vgl. Stammzellen: Keine EU-Gelder für Embryonenforschung, Oktober 2012).

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Australien: Fremdsamenspender-Kind kämpft um Information über genetische Identität



IVF-Verfahren bringen immer seltsamere Formen von Verwandtschaftsbeziehungen hervor

Haben Kinder, die von anonymen Samenspendern abstammen, ein Recht darauf zu wissen, wer ihr genetischer Vater ist? Diese Debatte ist in Australien neu aufgeflammt. Anlass ist der Fall Narelle Grech, eine 30-jährige Frau, die an einem unheilbaren, genetisch bedingten Darmkrebs erkrankt ist und das Recht einklagt, den Namen ihres biologischen Vaters zu erfahren. Nach zweijährigen Beratungen kam die beauftragte Prüfkommission des Bundesstaat Victoria zu dem Schluss, dass alle Datensätze von Samenzellspendern und Eizellspenderinnen für Tausende Kinder bzw. Erwachsene zugänglich gemacht werden sollen. Doch das Parlament bremst nun und fordert weitere sechs Monate Bedenkzeit - für Grech ein unverantwortlicher Schritt: Ihr werde nun im Endstadium ihrer Krankheit diese Information vorenthalten. Sie weiß von acht Halbgeschwistern, die ebenfalls vom selben Spender stammen und möglicherweise auch Träger der Krankheit sind. „Sie können nicht gewarnt werden. Wer ist dafür verantwortlich?“ fragt Grech gegenüber ABC-News (online 15.10.2012). 

Im australischen Bundesstaat Victoria haben Fremdsamenspender-Kinder derzeit kein Recht auf Informationen über ihren biologischen Vater, wenn sie vor dem 1. Juli 1988 empfangen wurden. 

In Österreich ist die anonyme Samenspende verboten, die namentliche Spende mit Insemination in vivo jedoch zugelassen. Nach §20 des FMedG haben Kinder ab dem 14. Lebensjahr Recht auf Einsicht in die Daten des „dritten Elternteils“. Dies hängt allerdings davon ab, ob die Erzieher das Kind über die Insemination der Mutter mit Fremdsamen aufklären, betonen Kinderrechtsschutzorganisationen. Eizellenspende und Samenspende in vitro sind in Österreich verboten. 

Weltweit spricht sich eine wachsende Zahl von inzwischen erwachsenen Personen gegen die Art und Weise aus, wie sie ins Leben gerufen worden sind. Viele von ihnen fühlen sich als „genetische Waisenkinder”. Bei dem Versuch, die eigenen Verwandtschaftsbeziehungen herauszufinden, geraten etliche in eine Identitätskrise (vgl. Fremdsamenspenderkinder auf der Suche nach ihrer Identität, Mai 2010). 

Phänomene wie der blühende Eizellspenden-Handel, der inzwischen auch von Frauen an Frauen in den Industrienationen geht, die dann das Kind aber von indischen Leihmüttern austragen lassen (vgl. ABC-News, 23.10.2012) oder die kürzlich durchgeführte Erzeugung menschlicher Embryonen aus dem Erbgut dreier Erwachsener (vgl. Spiegel, online 15.10.2012) werfen enorme ethische Probleme auf. Die IVF-Verfahren bringen immer seltsamere Formen von Verwandtschaftsbeziehungen hervor. 

Ein Beispiel der Gegenwehr von Betroffenen ist das The Anonymous Us Project. Gegründet wurde das Forum 2011 in den USA von Alana S. Newman, die selbst Kind eines anonymen Samenspenders ist. Newman sieht eine Lücke in der öffentlichen Wahrnehmung assistierter Reproduktionsmedizin: Kritische Sichtweisen der betroffenen Kinder, aber auch Erfahrungen von Samenspendern, Leihmüttern, Eizellspenderinnen, Ärzten oder Verwandten würden kaum publiziert. Das Forum möchte die Möglichkeit bieten, die Komplexität der Probleme künstlich assistierter Reproduktion aus Sicht der Betroffenen transparenter zu machen.

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